Quelle: Tagesspiegel, Berlin
Am 8. Mai 1979 herrschte im Berliner Olympiastadion gähnende Leere. Nur 10.000 Fans hatten den Weg zur deutsch-deutschen Begegnung zwischen Hertha BSC und Dynamo Dresden gefunden. Der DDR-Kontrahent von der Elbe weckte wenig Begeisterung beim West-Berliner Publikum. Zwei Wochen zuvor war Hertha vor 75.000 Zuschauern trotz eines glanzvollen Auftritts im Uefa-Cup-Halbfinale an Roter Stern Belgrad gescheitert. Gegen Dresden ging es um Trauerarbeit – und gesamtdeutsche Annäherung. Die Hertha-Fankurve im Olympiastadion feuerte deshalb eine Mannschaft an, die gar nicht auf dem Rasen stand.
„Union, Union, eisern Union!“ – so lauteten die Grüße via SFB-Fernsehen über die Mauer hinweg zu den Fans des 1. FC Union nach Ost-Berlin. Ein Derby Hertha gegen Union hätte in jener Zeit das Olympiastadion gefüllt. Doch das wurde von der DDR verhindert.
Montag Abend spielt wieder Berlin gegen Berlin, beide Vereine treffen in der Zweiten Liga aufeinander. Die Freundschaft ist abgekühlt, nur ältere Fans können sich noch an eine Zuneigung erinnern, die über die Berliner Mauer hinweg entstanden war. Die Fangruppen zeigten sich kreativ beim Umspielen der Grenze.
Erste Kontakte ermöglichten Herthas Europacup-Spiele in den Ostblockstaaten in den frühen 1970er Jahren; hier reisten auch Ost-Berliner Union-Fans an. Ein erstes gemeinsames Fest gab es im April 1978: Eine Wagenkolonne aus Wartburgs und Trabbis mit blau-weißen Wimpeln an der Heckscheibe setzte sich aus Ost-Berlin in Richtung Dresden in Bewegung, um Hertha bei der deutsch-deutschen Sportkalender-Begegnung gegen Dynamo anzufeuern. Da die Ost-Berliner Fans nur begrenzt Einlass ins Stadion erhielten, verlagerte sich die Verbrüderung mit den Hertha-Fans in die Straßen Dresdens. Der SFB-Reporter Jochen Sprentzel bejubelte die Ost-Berliner, „die zahlreich angereist waren, um den populären Klub aus dem Westen der geteilten Stadt zu stärken“.
Für die DDR-Führung waren solche Szenen schockierend. Bisher hatte man bloß mit der Sympathie der DDR-Fans für Bundesliga-Klubs zu kämpfen gehabt. Nun wurden die Sympathien erwidert, quasi ein Ost-West-Doppelpass. Aus den Akten der Staatssicherheit lässt sich heute gut ersehen, wie hilflos die Spitzel den Fangruppen gegenüberstanden.
Besonders Hertha zog viele Fans aus der DDR und Ost-Berlin in seinen Bann, vor allem Fans des 1. FC Union. Deren Sympathie für Hertha resultierte aus der eigenen Konkurrenz zum BFC Dynamo. Der als Stasi-Verein verschriene Abonnement-Meister war offizieller Vorzeigeklub der DDR-Hauptstadt. Beliebter in Ost-Berlin war jedoch der Underdog Union; auch weil der Klub einige Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen. 1968 etwa durfte der damalige Pokalsieger wegen des Prager Frühlings nicht am Europapokal teilnehmen. Als Reflex auf die Dauermeisterschaften des BFC lautete ein Schlachtruf der Unioner: „Es gibt nur zwei Meister an der Spree, Union und Hertha BSC!“ Hertha besaß schließlich ein ähnliches Underdog-Image.
Wie Union hatte auch Hertha kaum sportliche Erfolge zu feiern. Der Verein rutschte nach der Verwicklung in den Bundesligaskandal ab und war aufgrund der Insellage im Kalten Krieg sowieso benachteiligt. Beide Mannschaften pendelten zwischen ihren Ligen – und hatten nur selten große Momente zu feiern. Dann aber taten sie es gemeinsam.
Gesamtberliner Höhepunkt war Herthas Uefa-Cup-Viertelfinale im März 1979 gegen die Armee-Elf von Dukla Prag. Sportlich drohte Hertha nach einem 1:1-Hinspiel im Olympiastadion das Aus. Doch die Partie in Prag wurde zum Heimspiel. Von den 30.000 Zuschauern im Dukla-Stadion stammte die Hälfte aus der DDR und West-Berlin. Nach Erinnerung eines West-Berliner Hertha-Fans reisten etwa 5000 Fans aus Ost und West sogar gemeinsam an. Mit der Reichsbahn ging es ab Bahnhof Zoo in Richtung Prag. Am Ost-Berliner Bahnhof Schönefeld stiegen wie abgesprochen die Union-Fans in den „Hertha-Zug“ zu. In Prag wurde dann der Schlachtruf „Hertha und Union“ zum gesamtdeutschen Fanal. Und Hertha siegte tatsächlich sensationell 2:1 gegen die tschechische Spitzenmannschaft und zog ins Halbfinale des Uefa-Cups ein. Es ist der bis heute größte internationale Erfolg der Klubgeschichte.
Auch im Alltag gelang der Kontakt zwischen beiden Fangruppen. Hertha-Fans wurden ab Mitte der 1970er Jahre bei Heimspielen des 1. FC Union gesichtet. Das Stadion An der Alten Försterei wurde zum Markt gesamtdeutscher Fanutensilien. Mühsam über die Grenze geschmuggelte Aufnäher zeigten politisch brisante Bekundungen wie „Wir halten zusammen, uns kann nichts trennen, keine Mauer und kein Stacheldraht!“. Schals und Mützen mit dem Slogan „Hertha und Union – eine Nation“ gingen nur verdeckt von Hand zu Hand. Ganz offen im Schutz der Fankurve erklangen dagegen die Sprechchöre „Ha-Ho-He, Hertha BSC“. Bei Übertragungen des DDR-Fernsehens schafften es die Techniker nicht immer rechtzeitig, das Tonsignal schnell genug herunterzuregeln.
Im Olympiastadion taten die Hertha-Fans nichts Verbotenes, wenn sie sangen: „Wir halten zusammen wie der Wind und das Meer – die blau-weiße Hertha und der FC Union.“ Als Hertha gegen Ende der 1980er Jahre sogar in die Drittklassigkeit abgerutscht war, spielte der Klub im Poststadion. Beim Umsteigen auf dem Bahnhof Friedrichstraße, der auf DDR-Gebiet lag, riefen die Anhänger „Die Mauer muss weg!“ in Richtung der DDR-Grenzposten.
Als die Mauer im November 1989 dann tatsächlich weg war, fanden beide Fangruppen frei zusammen. Sie trafen sich erstmals im Olympiastadion zum Zweitliga-Spiel gegen Wattenscheid und feuerten gemeinsam Hertha auf dem Weg in die Erstklassigkeit an. Im Januar 1990 kam es dann zum denkwürdigen „Wiedervereinigungsspiel“ zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union im Olympiastadion. Mehr als 50.000 Zuschauer feierten emotional Wiedersehen. Union und Hertha lagen sich in den Armen.
Mehr als 20 Jahre später ist aus der Fanfreundschaft eine Konkurrenz geworden. Schon bei den Derbys vor zwei Jahren gab es gegenseitige Beschimpfungen vor allem jüngerer Fans. Wenn am Montag in der Alten Försterei angestoßen wird, dürfte auf den Rängen zur Melodie der Hertha-Hymne von Frank Zander wieder folgendes Lied zu hören sein: „Nur zur Hertha geh’n wir nicht!“
Die Autoren leiten das Zentrum Deutsche Sportgeschichte.