Der frühere Nationalspieler Alain Sutter über die Aussichten der Schweizer Fussballer
Zürich - «Ich war 1994 an der WM dabei, ich weiss, was das für einen Fussballer bedeutet. Es ist der absolute Höhepunkt vom Emotionellen her. Als Kind schaut man die WM am Fernsehen, man hat das Ziel, einmal selbst dabei zu sein, man sammelt Bildchen von den Spielern, und plötzlich ist man selber dabei. Dieses Gefühl ist absolut unschlagbar.
Noch heute denke ich immer wieder daran, wie das vor unserem ersten Spiel gegen die USA war. Wir gingen zum Einlaufen in den Silverdome hinaus, und ich spürte nichts als Freude. Manchmal hat man in einem solchen Moment etwas Angst, man sorgt sich, wie das Spiel läuft. Aber in diesem Moment gab es nur die reine, pure Freude, bei diesem Anlass dabei zu sein. Viele Spieler, die heute in der Nationalmannschaft sind, sammelten damals die Panini-Bildchen von uns. Jetzt bin ich es, der von aussen zuschaut und bei ihren Spielen mitfiebert. Auch für sie wird die WM das Grösste sein, was sie erleben können. Ich hoffe, sie nehmen sie nicht als weiteren Schritt in der Entwicklung. Wenn sie mit dieser Einstellung ans Turnier fahren, wird es genau das sein, was sie erwarten: nur ein Schritt. Nein, sie sollen sich sagen: Wir sind gut, wir können die Überraschungsmannschaft sein. Dann können sie werden, was sie sein wollen.
Sie müssen überzeugt sein, dass das auch machbar ist
Köbi Kuhn hat 2002 ein kleines Papier verfasst, in dem er einen Fahrplan für die Entwicklung seiner Mannschaft bis 2008 festgehalten hat. Dass er jetzt sagt, ja, wir wollen 2008 Europameister werden, finde ich gut. Wer nicht nach den Sternen greifen will, bekommt sie auch nie zu fassen. Die Spieler liegen bei ihrer Entwicklung im Soll. Und es gibt keinen Grund, warum sie nicht ein grosses Turnier gewinnen sollen. Sie können 2008 den EM-Titel gewinnen - aber nur, wenn sie daran glauben, wenn sie zu hundert Prozent davon überzeugt sind, dass das machbar ist.
Die Mannschaft von heute besitzt mehr Potenzial als die Mannschaft, mit der wir 1994 immerhin die Achtelfinals erreichten. Die ganze Konstellation ist anders. Die Spieler von heute sind im Durchschnitt jünger, das heisst, ihr Entwicklungspotenzial ist grösser. Etliche von ihnen haben schon in der Jugendzeit Erfolge gehabt. Sie haben dank dieser Erfahrung das Wissen und die Überzeugung, dass sie so genannte Grosse besiegen können. Das gab es zu unserer Zeit nicht. Heute zeichnet die Spieler Selbstvertrauen aus, wenn sie in die Nationalmannschaft aufsteigen.
Die Mannschaft als Einheit - auf und neben dem Platz
Auch wir hatten damals hervorragende Einzelspieler, Chapuisat, Sforza, Bickel, Geiger, Knup. Aber die jetzige Mannschaft erlebe ich ganz besonders als Einheit: als Einheit, die sich ganz klare Ziele gesteckt hat und die hart daran arbeitet, sie zu erreichen. Das ist sowohl auf als auch neben dem Platz der Fall.
Auf dem Platz erkenne ich das, wie sich die Spieler füreinander engagieren, an ihrer Körpersprache, an ihrem Umgang miteinander. Auch daneben ist dieser Umgang ein wichtiger Faktor, die Art eben, wie sie das kommunizieren. Ich habe sie für Reportagen im Schweizer Fernsehen besucht, fernab von der Nationalmannschaft. Und auch privat reden sie von der Einheit, und sie tun das «wie aus der Pistole geschossen». Ist der Erfolg die Folge von diesem Denken als Einheit? Oder ist die Einheit die Folge des Erfolges? Die ganze Arbeit unter Köbi Kuhn hat dahin gezielt, eine Einheit zu werden und zu bilden. Entsprechend ist er bei der Zusammenstellung der Gruppe vorgegangen, und er hat dabei personell schwierige Entscheide nicht gescheut, bei denen es nicht nur um sportliche Kriterien ging. Als er gleich am Anfang gegen Jugoslawien auf Sforza, Chapuisat und Henchoz verzichtete, setzte er ein Zeichen. Das tat er auch später, indem er Sforza gar nicht mehr aufbot, und nochmals bei N’Kufo, gegen den er aus gruppendynamischer Sicht entschied. Bis heute ist er in seiner Arbeitsweise konsequent geblieben. Köbi Kuhn ist kein Roy Hodgson, mit dem wir damals zur WM fuhren. Hodgson war sehr impulsiv, sehr emotional, er war der Vulkan, von dem man nicht wusste, wann er ausbricht. Er reagierte je nach emotionaler Verfassung. Aber man darf nicht vergessen, wie sehr der Schweizer Fussball von Hodgson profitiert hat. Er sorgte dafür, dass im Verband taktische Ausbildungsarbeit geleistet wird. Vor ihm hatte es das nicht gegeben.
Kuhn ist innerlich genau gleich angespannt, wie es Hodgson war. Auch in ihm laufen viele Dinge ab. Er zeigt sie uns nur nicht. Er ist der Ruhige, der Besonnene, den eine gewisse Gelassenheit auszeichnet. Ich kann nicht sagen, eine Art sei besser als die andere. Das Wichtigste für mich ist immer, dass ein Trainer authentisch ist. Das sind beide, Hodgson wie Kuhn, beide sind überzeugt davon, Erfolg zu haben, beide sind erfolgreich. Das ist der Schlüssel. Die Methode ist zweitrangig.
Kuhn schätzen die Spieler, weil er sie machen lässt, auf und neben dem Platz, weil er sie ernst nimmt, als Spieler und als Menschen. Er bringt ihnen Respekt entgegen, das schätzen sie auch. Er ist glaubwürdig und lebt vor, was er sagt. Für ihn geht es immer darum, Vertrauen in die Spieler zu zeigen. Ich glaube, die Spieler verspüren den inneren Drang, ihm das Vertrauen zurückzuzahlen, das er in sie setzt. Im Geschäftsleben wird unterschätzt, was auf einer emotionalen Ebene entstehen kann, wenn der Vorgesetzte dem Untergebenen vertraut. Im Fall der Nationalmannschaft erkennt man das.
Das Beispiel Magnin und die Rolle von Vogel als Captain
Dafür ist Ludovic Magnin das beste Beispiel. Kuhn hielt an ihm fest, als ihn alle schon abgeschrieben hatten. Gegen Israel war Magnin schlecht. Vier Tage später auf Zypern spielte Spycher an seiner Stelle hervorragend. Darum lag für jeden auf der Hand, dass Spycher auch gegen Frankreich verteidigt. Kuhn handelte anders, brachte Magnin, und der machte sein bestes Länderspiel. Ich sage: Gib jemandem Vertrauen, und er will es dir unbedingt zurückzahlen. Das war bei Magnin der Fall.
Kuhn vergleicht sich mit einem Hausarzt. Als Patient vertraut man seinem Arzt, wenn er die richtigen Diagnosen stellt. Wer richtig entscheidet, muss nicht mehr alles rechtfertigen. Kuhn lag ja auch richtig mit der Wahl von Johann Vogel zum Captain. Nichts gegen Murat Yakin, er würde das sicher auch gut machen. Aber für Kuhn spielte ein Aspekt sicher eine Rolle: Wie anfällig ist ein Spieler? Wer ist tendenziell häufiger verfügbar? Bei Muri besteht immer die Gefahr, dass er längere Zeit ausfällt. Vogel ist als Captain prädestiniert. Erstens nur schon mit seiner Rolle, auf dem Platz ist er der Dreh- und Angelpunkt. Er bringt, neben Patrick Müller, am meisten Erfahrung mit. Zweitens lebt er etwas vor. Er kehrt nicht den grossen Star heraus, auch nicht, seit er bei Milan ist, er stellt sich nicht in den Vordergrund und hält keine grosse Reden. Er hat Macht, aber er nutzt sie nicht aus.
Die Art und Weise, wie er spielt, ist grandios. Er ist für das Team immer Gold wert gewesen, auch dann, als ihm vorgeworfen wurde, er spiele unspektakulär. Mit dem Wechsel nach Mailand hat nun nur ein Entwicklungsschritt stattgefunden. Vogel ist zentraler Teil der Achse, welche die Mannschaft zusammenhält. Patrick Müller spielt in der Abwehr fantastisch, Alex Frei ist im Angriff die Lebensversicherung. Und einen Jungen muss ich erwähnen: Philippe Senderos. Was er leistet, ist alle Ehre wert.
Kuhn und die Strukturen als Garantie für Kontinuität
Die Mannschaft, in der ich in den 90er-Jahren spielte, gab den Startschuss zu einer Entwicklung, die dem Schweizer Fussball so viel gebracht hat. Die Strukturen im Verband sind heute ganz klar, die Planung ist ganz klar. Es wird nicht mehr vorkommen, dass ein Trainer so kurz vor einer EM abspringt, wie das Roy Hodgson Ende 1995 mit seinem Wechsel zu Inter Mailand tat. Jetzt wird die Arbeit bis 2008 kontinuierlich vonstatten gehen. Kuhn und die vorhandenen Strukturen bieten Gewähr dafür.