bitte klammer auch lesen.
(noch schlaffer als jene auf dem feld sind die leidgenossen auf den rängen. die spieler waren wenigstens ehrgeizig genug profifussballer zu werden):
sonntagszeitung, 15.06.08 hat geschrieben:Schlaffe Leidgenossen
Müde Jäger, lahme Krieger - Wieso den Schweizer Fussballern der Killerinstinkt fehlt
von Michael Lütscher
Einen «Jagdersatz» nennt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk das Fussballspiel. Es sei die klarste Antwort auf «die Frage, was man mit Jägern macht, die keiner mehr braucht». Die Schweiz ist bei der grossen Jagdpartie Euro 08 leer ausgegangen. Sie hat keine Beute gemacht, weil ihren Stürmern jeweils der finale Schuss misslang. Und das nicht zum ersten Mal.
Bei der WM 2006 brachten sie im Achtelfinal gegen die Ukraine von drei Penaltys keinen ins Ziel. An den Europameisterschaften in Portugal 2004 und in England 1996 gelangen den Schweizern in sechs Spielen zwei Treffer.
Die Eidgenossen bringen keine Weltklassestürmer hervor. In 20 Jahren entwickelten nur Kubilay Türkyilmaz, Adrian Knup, Stéphane Chapuisat und Alex Frei so etwas wie Jagdinstinkt. Diese Ausnahmen bestätigen eher die Regel. Was möglich ist, zeigt ein Blick auf Nationen, mit denen sich die Schweiz mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern vergleichen muss:
Die Auswahl der 4,5 Millionen Kroaten besiegte gerade Fussballkoloss Deutschland; das gelang dem Land schon 1998, als es WM-Dritter wurde. Die 5,5 Millionen Dänen stellten eine Mannschaft, die sich 1992 die Europameisterschaft erkämpfte und 1998 bis in den WM-Viertelfinal vordrang. Tschechien, 10 Millionen Einwohner, stand 2004 im EM-Halbfinal, 1996 im Final. Die 11 Millionen Portugiesen brachten Stürmer wie Eusebio oder Ronaldo hervor. Eusebio schoss die Nation 1966 in den kleinen WM-Final, Ronaldo 2006. 2004 stand Portugal mit Ronaldo im EM-Final. Besiegt wurde es dort von Griechenland, das gleich viele Einwohner zählt.
Wer selber nicht trifft, der wird getroffen - wie beim Duell
«Dass es der Schweiz an guten Stürmern mangelt, ist typisch», sagt Josef Hochstrasser, Theologe und Autor von Essays über Fussball. «Fussball ist eine Mentalitätsfrage, und die Schweizer sind einfach zu wenig aggressiv.» Hochstrassers Erklärung: «Wir Schweizer haben seit Jahrhunderten für nichts mehr kämpfen müssen. Wir haben uns schon lange nicht mehr durchsetzen müssen. Wir haben alles.»
Fussball aber sei «entweder -oder»: ein Spiel zwar nur, aber eine existenzielle Situation, das haben die Schweizer nach dem Spiel gegen die Türkei erfahren. Wer seine Torchancen nicht nutzt, erhält Gegentore. Diese scheinbar unlogische Regel hat sich an dieser EM erneut bestätigt. Es ist wie bei einem Duell: Wer selber nicht trifft, wird getroffen. Anders gesagt: Der Stürmer - ein Jäger par excellence - muss über einen Killerinstinkt verfügen.
Wer sieht, wie die Ronaldos und Podolkis die Bälle ins Netz hämmern, erkennt nicht nur Technik oder Glück, sondern Rücksichts- und Kompromisslosigkeit, den «Willen zum Tor», wie Philosoph Friedrich Nietzsche sagen würde. «Fussball ist ding-dang-dong», erklärte Giovanni Trappatoni, der legendäre italienische Trainer. Richtig interpretiert, geht es beim Fussball um Tore machen, um Schiessen, Versenken, Bumbum.
In Ländern wie Tschechien und Kroatien kennt man Geschützdonner aus der jüngeren Vergangenheit. Von den Kriegen auf dem Balkan in den Neunzigerjahren, an denen Kroatien beteiligt war. Von den sowjetischen Panzern, die 1968 den Prager Frühling niederwalzten. Dänemark und Griechenland kennen die Kriegsgeissel aus dem Zweiten Weltkrieg, Portugal führte vor 35 Jahren noch Kolonialkriege in Afrika.
Sollten die Fussballer dieser Länder vergessen haben, worum es auf dem EM-Rasen geht, so rufen es ihnen ihre Nationalhymnen vor dem Ankick in Erinnerung: «An die Waffen, die Waffen/ um unser Vaterland zu verteidigen», lautet der Refrain der portugiesischen Hymne. «Für Krone und das Vaterland!» heisst es bei den Dänen; «Aus der Griechen Knochen wutentbrannt entsprossen» bei den Hellenen. Ihr «heldenhaftes liebes Land» besingen die Kroaten.
Die kroatischen Fans, die heissblütigsten dieser EM, rufen ihren Stürmern zu: «U boj, u boj za narod Svoj», was so viel heisst wie: «In den Kampf, den Kampf für unser Volk». Dagegen ist unser «Hopp Schwiiz!» und «Schwiizer Nati, olé» schlicht und einfach zu nett, um einen Stürmer anzupeitschen. Die Zeile «Betet, freie Schweizer, betet» der Nationalhymne bringt das Schweizer Dilemma geradezu auf den Punkt: Die Fans im Stadion sollen den Fussballgott ruhig anbeten, die Spieler aber müssen ihn auf ihre Seite zwingen: Tore schiessen!
«Messieurs, greifen Sie mit den Schweizern niemals an»
Bekanntlich sollen Schweizer Soldaten ihre Waffe noch immer zu Hause aufbewahren. Aber das ist Teil der umfassenden Präventionspolitik des Bundes und keine Frage von Leben und Tod.
Schweizer Kriegserfahrungen liegen zum Glück schon lange zurück. Der Aktivdienst 1939 bis 1945 war ja eher passiv. Der Rest ist alte Geschichte: Morgarten 1315, Sempach 1386, der heldenhafte Winkelried, die Schlachten gegen Karl den Kühnen im 15. Jahrhundert, Offensiven in die Nachbarschaft, die mit der Niederlage bei Marignano 1515 endeten. Danach Teileinsätze unter Wallenstein, die Aufopferung der Schweizergardisten 1792 für den französischen König Ludwig XVI. gegen den Tuileriensturm der revolutionären Garden in Paris.
Schweizer Militäraktionen hatten meist wenig mit Angreifen und viel mit Verteidigen zu tun. Schriftsteller und Fussballfan Thomas Hürlimann weist auf ein Diktum Napoleon Bonapartes hin: Napoleon zu seinen Generalen nach der Schlacht an der Beresina: «Messieurs, greifen Sie mit den Schweizern niemals an - sie sind geborene Verteidiger.»
Das gilt auch für den Fussball. Bei der WM 2006 kassierten die Schweizer in ihren Spielen kein einziges Gegentor, sie verloren erst im Penaltyschiessen danach. Und die einzige fussballerische Erfindung made in Switzerland ist der «Schweizer Riegel»: ein Verteidigungssystem, das die heute gebräuchliche Raumdeckung begründete, entwickelt in den Dreissigerjahren vom viermaligen Nationaltrainer Karl Rappan.
Können Secondos aus kriegsgeplagten Ländern für mehr Aggressivität und damit Abhilfe bei der Tormisere sorgen? Jener Stürmer, der in den Spielen gegen Tschechien und die Türkei drei erstklassige Torchancen ausliess, stammt aus der Türkei, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren ihre kurdische Minderheit zusammenschoss. Hakan Yakin zeigte mit seinem Zaudern vor dem Tor, wie assimiliert er ist, wie erfolgreich Integration bei uns ist.
Sollte die neutrale Schweiz also einen Krieg führen und das Veltlin zurückerobern, um an der nächsten Euro zu brillieren? Sie würde glatt ausgeschlossen. Nein, das echte Jagdfieber, das die dahergelaufenen Bären, Wölfe und die ausgesetzten Luchse entfacht haben, wird sich in der nächsten Fussballergeneration positiv bemerkbar machen.